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Anmerkungen zur Kunstbetrachtung vor Originalen im Zeitalter von Distance Learning oder die Bedeutung digitaler Bilddaten

Claudia Koch, Kuratorin der Gemäldegalerie und Lehrbeauftragte am IKR

Nach Schließung aller Standorte der Akademie am 16. März 2020 vor dem Hintergrund der regierungsseitig verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie ist Remote oder Distance Learning & Teaching das Gebot der Stunde. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese Methoden für alle Formen der Wissensaneignung und -vermittlung geeignet sind.

Ich betreue als Lehrende die Lehrveranstaltung „Kunstbetrachtung vor Originalen“, ein Pflichtfach für Studierende des Lehrgangs „Konservierung und Restaurierung“ im 1. Abschnitt am Institut für Konservierung-Restaurierung. Als Vorlesung und Übung vereint die Lehrveranstaltung Theorie und Praxis. Sie soll exemplarisch Einblicke in die Methoden und Inhalte der Kunstgeschichte vermitteln. Im Wege von diskursiver Werkanalyse gilt es verschiedene, im Berufsbild gefragte Fertigkeiten zu schulen. Diese sind unter anderem die Ausbildung und Schärfung der eigenen Urteilsfähigkeit auf dem Gebiet der Kunstgeschichte sowie die Anwendung einer adäquaten Fachsprache. Die Lehrveranstaltung findet üblicherweise direkt vor den Originalen in der Schausammlung der Gemäldegalerie statt, die während der laufenden Bestandssanierung des Hauptgebäudes der Akademie aktuell nur in verringertem Umfang im Theatermuseum zu besichtigen ist.

Mit dem Beginn des Lockdown war die Dauer dieser Maßnahme nicht vorhersehbar. Seitens der Universität waren die administrativen und technischen Voraussetzungen für die Umstellung auf Distance Learning & Teaching ausgesprochen rasch organisiert. Im konkreten Fall konnte die Lehrveranstaltung mit Hilfestellung von Mag. Dr. Anke Schäning und Bettina Aspan vom IKR sowie von Mariana Höbart vom ZID noch in derselben Woche via Zoom-Konferenz begonnen werden. Für mich als Lehrende stellte sich die Herausforderung, das bereits vorbereitete Unterrichtsmaterial für Remote Teaching zu adaptieren – vor allem aber für die nicht mehr zugänglichen Originale einen adäquaten digitalen Ersatz zu finden. In Bezug auf die eigenen Sammlungsbestände verfügt die Gemäldegalerie in bestimmten Bereichen aufgrund der kontinuierlichen Grundlagenforschung und Digitalisierung über hervorragende, hochauflösende Bilddaten. Das vergleichende Unterrichtsmaterial ließ sich zum großen Teil unkompliziert über diverse kostenfreie Online-Dienste organisieren. An dieser Stelle spare ich die Beschreibung der Mühen zur Bewältigung jener allseits bekannten Problematik, die der mangelnden technischen Ausrüstung und der instabilen Webperformance im privaten Bereich, sowohl bei den Lehrenden, als auch bei den Studierenden, geschuldet ist, aus.

Formen von Remote oder Distance Learning & Teaching sind jedoch für die genannte Lehrveranstaltung nur bedingt geeignet. Vorteilhaft erweisen sie sich besonders im Feld der vergleichenden Kunstgeschichte, bei Fragen zur Formengeschichte, Ikonografie und Ähnlichem, nicht aber bei den praxisbezogenen Übungen. Das Erlebnis der Betrachtung der Kunstwerke im Original ist in seiner Wirkung nicht durch Abbildungen ersetzbar. Damit meine ich in Bezug auf die Lehrveranstaltung weniger die auratische Wirkung der Werke auf das betrachtende Gegenüber, sondern vielmehr die Möglichkeit zur visuellen Analyse als Ausgangspunkt jeglicher Beurteilung, sei es kunsthistorischer, maltechnischer oder konservatorischer Natur. „Das Sehen“, also die genaue Betrachtung von Oberflächen und Strukturen im Detail wie in der Zusammenschau ist eine Grundanforderung des Faches, das einer gewissen Übung bedarf und das das Erkennen von Materialien und Maltechniken erst möglich macht. An dieser Stelle kristallisieren sich also erwartungsgemäß die Grenzen des Digitalen für diese Lehrveranstaltung heraus. Trotz guter Qualität der Bilddaten fehlt diesen gemeinhin als wesentlicher Bestandteil die dritte Dimension, denn nicht nur Skulpturen, sondern auch Gemälde und Grafiken sind als dreidimensionale Objekte wahrzunehmen.

Der Hauptzweck der üblicherweise in der Gemäldegalerie generierten Bilddaten ist die Reproduktion zur Verwertung für Drucksorten jeglicher Art, von Publikationen über Werbemittel bis hin zu Merchandisingprodukten. Die entsprechenden professionellen Aufnahmen von Gemälden werden zu diesem Zweck explizit aus frontaler Perspektive und unter künstlicher Beleuchtung getätigt, um die Entstehung von Glanzlichtern zu unterbinden. So werden die Leinwände und Tafeln als perfekte plane Oberflächen suggeriert, was selten der Realität entspricht. Die Beschaffenheit der Oberflächen der Werke mit all ihren Strukturen und Unebenheiten enthält jedoch wertvolle, auch haptische Informationen über die Technik, den Stil und den Zustand eines Objektes sowie über die verwendeten Materialien. All dies ist anhand der üblichen Bilddaten selten ablesbar. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Darstellung der „Marienkrönung“ von Antonio da Fabriano genannt, deren Malschicht durch den Einsatz verschiedener Techniken, darunter Schablonenmalerei mit Temperafarbe zur Gestaltung von Textilien, Punzierungen und Gravuren im Goldgrund sowie Auflagen in Pastigliatechnik für schmückendes Beiwerk, ein ausgeprägtes Relief aufweist.

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Antonio da Farbiano (um 1451–1486 in Fabriano/Italien dokumentiert): Marienkrönung, 1452, Tempera auf Holz, 88,5 x 64 cm © Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste Wien

Zur Dokumentation derartiger Informationen benötigt es andere Techniken und Verfahren, darunter Aufnahmen im Streiflicht oder unter dem Mikroskop. Die Gemäldegalerie hat an der Akademie seit den 1970er Jahren in Zusammenarbeit mit dem Institut für Naturwissenschaften und Technologie in der Kunst viele Werke ihres Bestandes derartigen Untersuchungen unterzogen. Mehrfach konnten im Rahmen von Forschungsprojekten und teils mit Drittmittelförderung zuerst unter der Leitung von Univ.Prof. Dr. Franz Mairinger und aktuell von Univ.Prof. Univ.Doz. DI Dr. Manfred Schreiner dem Material entsprechend vielfältige Forschungsarbeiten getätigt und in bildgebenden Verfahren dokumentiert werden. Einzelne Ergebnisse dieser Forschungen fließen exemplarisch in meinen Unterricht ein, die Auswertung davon ist jedoch nur im Abgleich mit dem Original sinnvoll, um Fehlinterpretationen jeglicher Art vorzubeugen.

Als Fazit der coronabedingt erforderlichen Umstellung auf Remote oder Distance Learning & Teaching aller Lehrveranstaltungen im SoSe 2020 muss festgehalten werden, dass diese Methoden für „Kunstbetrachtung vor Originalen“ keine geeigneten Modelle für die Zukunft darstellen. Allein der Umstand, dass das Studium der Gemälde anhand von digitalen Bilddaten im virtuellen Raum keinesfalls das unmittelbare Erlebnis mit dem Kunstwerk, also die visuelle und physische Annäherung an ein Objekt ersetzen kann, ist als Argument ausreichend. Der Grundidee dieser Lehrveranstaltung entspricht das Ineinandergreifen von Seherfahrung und deren sprachlicher Formulierung im ständigen Austausch mit Wissensvermittlung durch Vorlesungselemente. Die Trennung von Theorie und Praxis bringt daher in diesem Fall keinen Mehrwert, sondern mindert den Lernerfolg.

Das Feedback der Studierenden zur aktuellen Situation ist trotz aller Einschränkungen durchaus positiv. Sie sind grundsätzlich dankbar für die Fortführung des Studienbetriebs und zollen der raschen Verlagerung der Lehre in den virtuellen Raum Respekt. Auch wenn ein gesteigertes Bewusstsein über den besonderen Wert von Eigenstudium bei den Studierenden vorherrscht und sie ein entsprechendes Engagement zeigen, so bereitet Ihnen die Aussicht darauf, bereits Versäumtes nicht schon im laufenden, sondern erst im nachfolgenden Semester aufholen zu können, große Sorgen. In Bezug auf meine Lehrveranstaltung kann die gemeinsame Betrachtung der Originale zur Sicherung des Lernerfolgs ebenfalls erst im kommenden Semester auf freiwilliger Basis erfolgen. Die Notwendigkeit dieses Angebots erachte ich jedoch als Verpflichtung gegenüber den Studierenden, um allen die Möglichkeit zu geben, die Gemälde mit ihren spezifischen Charakteristika aus eigener Anschauung im Detail wie in ihrer Gesamtheit zu erfassen - und selbstverständlich auch um die viel zitierte "Aura des Originals" verifizieren zu können.