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Was uns angeht: Zuschauen als Relation

Projektleitung:
Martina Gimplinger

Gefördert von:
ÖAW

ÖAW | DOC
geleitet von Martina Gimplinger, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften
Projektlaufzeit: 1.11.2018 – 31.10.2021

In meinem Dissertationsprojekt wird das Zuschauen selbst zum Ort, an dem die Aufführung ihren Ort hat: Ich untersuche das Wie des Zuschauens und seine politische Bedeutung in Resonanz mit einzelnen, zeitgenössischen Theaterarbeiten – u. a. mithilfe von Theorien, die über lineare Konzeptionen von Zeit bzw. Zeitgenossenschaft hinausgehen (Elizabeth Freeman, Rebecca Schneider) und nichtlineare Formen von Zeit und Geschichte berücksichtigen (bspw. anhand des Nachlebens, des Trauerns oder des Unbewussten). Das Wie des Zuschauens beziehe ich hierbei auf die wechselseitige Durchdringung der jeweilig relational angelegten Sphären von Nicht-Erzählbarkeit und Nicht-Vergessen-Können, die sich im Verhältnis von neuen Darstellungsweisen auf der Bühne und neuen Wahrnehmungsweisen der Zuschauer_innen herausarbeiten lassen. Sobald etwas erzählt werden könne, könne es laut Psychoanalytiker Werner Bohleber auch vergessen werden – warum dies für einzelne Theaterarbeiten von Clara Furey und Romeo Castellucci nicht gilt, versucht das vorliegende Dissertationsprojekt zu zeigen.

Grundlage der Untersuchung sind einzelne Theaterarbeiten, die ich vor Jahren gesehen habe und die seither in meine Gegenwart hineinragen. Die ausgewählten Theaterarbeiten tragen die Spuren der einschneidenden Gewaltereignisse der Geschichte und sind dementsprechend von einem Problem der Darstellung von Nicht-Darstellbarem gekennzeichnet. Das produktionsseitige Problem der Darstellung von Nicht-Darstellbarem kann auch auf Seiten des Zuschauens zu einer potentiellen Transformation der Beziehung zu Zeit, zu Raum, zu Geschichte, Erinnerung und Vergangenheit, und zu Anderen führen (v. a. Emmanuel Lévinas, Edouard Glissant). Das Nicht-Erzählbare dringt in den ästhetischen Verfahren der Darstellung und den Erfahrungen des Zuschauens durch. Wie formt das, was nicht vollständig zu Geschichte zu gerinnen vermag, die Art meines Zuschauens?

Meine These lautet, dass einzelne künstlerische Arbeiten durch einen spezifischen Einsatz von Zeitlichkeit eine ästhetische Ausnahmeerfahrung ermöglichen, die sich einer ausschließlich narrativen Erinnerung widersetzt und somit auch ein Vergessen verhindert. Das „Nicht-Vergessen-Können“ steht mit einer besonderen Form von Zeitlichkeit in Verbindung, die sich auf räumlich und zeitlich eingrenzbare Gewaltereignisse der Geschichte bezieht, deren traumatische Spuren jedoch nicht in Raum und Zeit abgrenzbar sind. Das spezifische Wirken einer traumatischen Erinnerung entsteht mit der Nichtkommunizierbarkeit einer Verletzung. Sie bezieht sich nicht auf etwas, das in der Vergangenheit zeitlich und räumlich abgegrenzt ist, „sondern auf etwas das ist, vielleicht mehr: etwas, das nicht ist" (Martina Kopf, Trauma und Literatur). Das vorliegende Dissertationsprojekt versucht besonderen Formen von Zeitlichkeit in einzelnen, künstlerischen Arbeiten nachzugehen und diese mit einem bestimmten Fühlen und Denken, Leben und Zuschauen in Relation zu denken: Als Zuschauen in Relation zu Geschichte, die nicht Geschichte ist, zu Vergangenheit, die nicht vergangen ist, kurz: zu Zeiten, die mich angehen.