Rituale der Ernte: Ein Aufruf zur "Visitation"
FWF | PEEK-Projekt
geleitet von Anette Baldauf, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften
Projektlaufzeit: 1.7.2025 – 30.6.2027
Dieses künstlerische Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Ernte-Traditionen aus (Ost-)Afrika und untersucht sie als Wissensquelle für Praktiken der Fürsorge, Reziprozität und Beziehungsgestaltung. Es versteht die Ernte nicht nur als festliches Ritual, sondern auch als Gestaltung und Methode – als eine verkörperte, gemeinschaftliche Praxis, die verschiedene Formen des Wissens und Zusammenlebens sichtbar macht.
Ausgangspunkt des Projekts sind Ernte-Rituale aus Äthiopien, Kenia, Tansania und Rumänien sowie der Dialog mit translokalen afrikanischen Gemeinschaften in Wien. Das Projekt schlägt vor, das Konzept der Ernte als künstlerisch-forschende Praxis zu begreifen, die kulturelle, geografische und epistemische Grenzen überschreitet. Dabei werden Rituale des Ernten als dekolonialer Rahmen genutzt, der alternative Wissenssysteme erschließt – Systeme, die in westlich geprägten Forschungstraditionen oft ausgeklammert bleiben.
Obwohl Afrika stark von kolonialer und postkolonialer Ausbeutung betroffen ist, konzentrieren sich viele Debatten über Extraktivismus auf andere Regionen wie z. B. Lateinamerika. Afrikanische Epistemologien finden in der Analyse kaum Beachtung. Dieses Projekt fordert diese Konstellation heraus: Es zeigt, dass Ernte-Rituale auf tief verwurzelten Prinzipien der Reziprozität, Fürsorge, Gastfreundschaft und Verbundenheit beruhen. Sie tragen zum kollektiven Überleben bei und verkörpern eine Form von Resilienz, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Im Zentrum des Projekts steht eine künstlerisch-praktische Auseinandersetzung mit diesen Ritualen. Dabei werden performative Methoden wie Partituren, Spiele und gemeinschaftliche Versammlungen eingesetzt, die sich an den zyklischen Rhythmen des Ernten orientieren – z. B. am Rufen, Weben, Tragen oder Zurückkehren. Diese Praktiken dienen nicht nur als kulturelle Referenzen, sondern als lebendige Methoden, mit denen sich Wissen auf andere Weise, d.h., körperlich, gestisch, mündlich und materiell, ausdrücken lässt.
Das Projekt schlägt "Visitation" – also den Versuch, eine Begegnung zu ermöglichen und Raum dafür zu öffnen – als forschende Grundhaltung vor. Es wird hier als Methode verstanden, um Beziehungen zu pflegen, Vergangenes in Erinnerung zu rufen, Gegenwärtiges zu würdigen und Zukünftiges zu ermöglichen. Zeit wird dabei nicht linear, sondern zirkulär und vielstimmig erfahren – durch Erinnerungen, Rituale und spirituelle Verbindungen.
Indem Ernte-Rituale als künstlerisch-politische Strategie aktiviert wird, verlagert das Projekt den Fokus auf Ostafrika – nicht als geografischen Raum, sondern als Denk- und Lebensform, die auf Verbindung, Fürsorge und kollektives Wissen setzt. Es lädt dazu ein, künstlerische Forschung neu zu denken, nicht durch Strategien der Aneignung, sondern durch Teilhabe, Achtsamkeit und Rückkehr.