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Ins koloniale Archiv hören: Kritik und Repräsentation in den Stimmaufnahmen mit afrikanischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges

Projektleitung:
Anette Hoffmann (IKW)

Kooperationspartnerin:
Ruth Sonderegger (IKW)

Gefördert von:
FWF - Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung | Lise-Meitner (M2231)

FWF | Lise-Meitner Fellow
Anette Hoffmann, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften
Projektlaufzeit: 1.5.2017 – 29.2.2020

Wissenschaftliche Erforschungen kolonisierter Gebiete und Menschen haben enorme Archive und Objektsammlungen hinterlassen. Die Erforschten selbst bleiben in diesen kolonialen Archiven meist stumm. Sie wurden zumeist bildlich und schriftlich aus der Perspektive von Forschenden, Reisenden, Missionaren und Kolonialbeamten repräsentiert. Die Problematik des Kolonialarchivs als oftmals einziger Quelle der europäischen Wissensproduktion im Allgemeinen und der (kolonialen) Geschichtsschreibung im Besonderen, wird dementsprechend seit einigen Jahren diskutiert. Bislang jedoch wurden historische Stimmaufnahmen, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zur Erforschung von Sprachen und Kulturen produziert und archiviert wurden, in diese Diskussion kaum einbezogen. Die Vernachlässigung der zahlreichen Sammlungen von Stimmaufnahmen verzerrt nicht nur unser Verständnis des kolonialen Archivs, sondern übergeht auch bedeutende akustische Quellen.

Mit Sprach- und Gesangsaufnahmen gelangten kritische Kommentare zur europäischen Forschungspraxis und zum Zeitgeschehen von Sprecher_innen aus kolonisierten Regionen in europäische Archive, wo sie oftmals jedoch nicht einmal übersetzt wurden. Diese erst kürzlich digitalisierten Aufnahmen eignen sich ganz besonders als Quellen zur Untersuchung von rassistischen Forschungspraktiken, denn auf diese Weise werden – zumeist erstmals – gesprochene Kommentare der Untersuchten mit einbezogen.

Das Forschungsprojekt Ins koloniale Archiv hören untersucht Stimmaufnahmen aus einem Konvolut von 350 sprachwissenschaftlichen Aufnahmen mit afrikanischen Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges. Diese Aufnahmen des Berliner Lautarchivs sind ein Teilergebnis eines großangelegten Forschungsprojektes zur Erfassung aller in deutschen Kriegsgefangenenlagern gesprochenen Sprachen (1915-18). Die systematische Vorgehensweise dieses Forschungsprojekts und ihre Dokumentation erlauben die Untersuchung der frühen wissenschaftlichen Aufnahmepraxis. Die Aufnahmen selbst fördern erstaunliche Kommentare, Erzählungen und Verbindungen zu anderen Archiven zutage: So führt die akustische Spur eines Sprechers beispielsweise direkt zu anthropologischen Forschungen an Kriegsgefangenen in Rumänien. Ein senegalesische Sprecher teilt mit, dass er nicht dorthin deportiert werden möchte, und kann mithilfe der (nur) akustisch dokumentierten Aussage in den archivierten Aufzeichnungen österreichischer Anthropologen in Wien aufgefunden werden.

Diese und andere Beispiele zeigen den Stellenwert akustischer Sammlungen bei der Auffindung ansonsten marginalisierter Kommentare. Das Projekt analysiert 70 bereits übersetzte Aufnahmen in sieben afrikanischen Sprachen. Es untersucht deren Genres und Inhalte im Zusammenhang mit und im Kontrast zu zeitgenössischen bildlichen und schriftlichen Repräsentationen von kriegsgefangenen Afrikanern.

Anette Hoffmann entwickelt seit einigen Jahren Methoden der Analyse von Tondokumenten, die in diesem Projekt exemplarisch umgesetzt werden. Die erstmalige Übersetzung und Interpretation der Tonaufnahmen afrikanischer Kriegsgefangener stellt außerdem bisher nicht bekannte historische Quellen zu Erfahrungen von afrikanischen Kolonialsoldaten im Lager vor, und zeigt damit das immense, bisher nicht berücksichtige Potential historischer Tonaufnahmen für die Dokumentation zeitgenössischer Kolonialkritik.